Donnerstag, 1. März 2012

1. Fliege im Konferenzraum


Sechs ältere Herren mit grauen Haaren, grauem Anzug und Krawatte saßen am Konferenztisch und erfüllten mit ihren tiefen, sonoren Stimmen den Raum. Sie machten sehr ernste Gesichter, runzelten häufig die runzlige Stirn, fuchtelten mit ihrem dicken Zeigefinger oder deuteten wiederholt und vehement auf Zahlen auf einem Blatt Papier.

Draußen war schönstes Spätsommerwetter. Vor den Fenstern des Konferenzraums blühten Rosen, Astern und Gänseblümchen, und die Nachmittagssonne spielte mit den goldenen Uhren der älteren Herren. Der Wind strich sanft über die langen Gräser, so dass abwechselnd ihre matte und dann ihre glänzende Oberfläche zu sehen war. Ich weiß das, weil ich ebenfalls an diesem Konferenztisch saß. Hin und wieder versuchte auch ich, mit meiner Piepsstimme den Raum zu erfüllen. Auch ich hatte ein Blatt Papier, mit dem ich dabei wedelte, aber ich muss wohl eine Tarnkappe auf dem Kopf gehabt haben, denn niemand nahm auch nur die geringste Notiz von mir. Darüber war ich stocksauer, denn die Herren stritten sich über Fragen, die ich ihnen mit Leichtigkeit hätte beantworten können: Wie können wir die Menschen dazu bringen, mehr Traubensaft zu kaufen? Ich hätte dazu einige schlaue Anmerkungen machen können, denn das war mein Job.

Ich war PR-Beraterin. Und die Herren waren wichtige Vertreter wichtiger Safthersteller, die sich in einem Verein zur Förderung des Traubensaftes zusammengeschlossen hatten. Mein Chef zahlte ihnen viel Geld (und mir nicht so viel) dafür, dass ich ihnen dabei half. Doch mit Anfang zwanzig fehlte mir ganz offensichtlich die nötige würdevolle Ausstrahlung, um von den Herren ernstgenommen zu werden.

Inzwischen war es im Konferenzraum recht warm geworden und einer der Herren stand auf und öffnete ein Fenster. Für wenige Sekunden sank der Geräuschpegel im Raum und ich nutzte die Gelegenheit, um mit einem Räuspern und einem gehaltvollen „Also...“ die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Ich formulierte im Geiste noch einmal meinen Satz und blickte in die Runde, um sicherzugehen, dass mich auch alle bemerkt hatten. Doch die Blicke der Konferenzteilnehmer hingen wie gebannt an dem Herrn, der sich am Fenster zu schaffen machte. Ich gebe zu, das war ein wichtiges Ereignis, aber ich war doch zutiefst enttäuscht. Kurz darauf saßen wir wieder vereint am Besprechungstisch und die tiefen, sonoren Stimmen erfüllten erneut den Raum. Niemand bemerkte die Schamesröte (vielleicht war auch ein bisschen Zornesröte dabei), die mir jetzt ins Gesicht stieg.

In Ermangelung einer sinnvolleren Tätigkeit widmete ich mich wieder der Betrachtung des beschaulichen Gartens. Es dauerte nicht lange, bis eine Stubenfliege das einladende Fenster entdeckt hatte und sich entschloss, den Konferenzraum zu erkunden. Ich vermute, sie hatte die Kekskrümel auf dem Besprechungstisch gerochen. Die Kekskrümel waren wohl nicht das Richtige, denn nach kurzem Lecken ließ sie sich auf dem Rand einer Kaffeetasse nieder. Der Herr, dem die Tasse gehörte, fuchtelte ärgerlich mit der Hand. Das machte der Stubenfliege offenbar höllischen Spaß, denn sie nahm sich gleich die nächste Tasse vor. „Juchhu!“, hörte ich sie sagen, „fang mich doch!“ Der Herr versuchte sie zu fangen, aber die Fliege war natürlich viel schneller. Rasch mit einem geschickten Täuschungsmanöver zur nächsten Tasse und von dort direkt auf die Nase des Tassenbesitzers. Der versuchte die Fliege mit Karateschlägen in die Flucht zu schlagen, doch darüber konnte die Fliege nur lachen. Munter summend zog sie ihre Kreise, setzte spielerisch zur Landung auf einer Halbglatze an, um gleich danach wieder Vollgas zu geben und die zarten Rundungen eines faltigen Ohrläppchens zu erkunden. Jetzt kamen die Herren richtig in Bewegung und einer nach dem anderen versuchte, die Fliege zu erhaschen. Bis sie sich direkt vor mir auf den Tisch setzte. Sie haben wahrscheinlich inzwischen bemerkt, dass ich mich nicht nur mit Öffentlichkeitsarbeit, sondern auch mit Fliegen auskenne. Ich überlegte also nicht lange. Mit einem geübten Ausholmanöver (niemals hastig, sondern stets im Zeitlupentempo!) zog ich meinen linken Arm zurück, um dann mit einer käscherartig geformten Hand und erbarmungsloser Geschwindigkeit die Fliege zu überwältigen. Die Fliege hatte natürlich nicht den Hauch einer Chance. Triumphierend blickte ich in die Runde. Alle Augen ruhten auf mir, die Kinnklappen hingen weit herunter. Ich hatte sie. Die Fliege, die Aufmerksamkeit und meine Genugtuung. Und das ganz ohne Worte.

Ich legte die tote Fliege (Gott hab sie selig) in einen Aschenbecher, nahm all meinen Mut und meine Papiere in die Hand und sagte endlich, was ich schon seit Stunden sagen wollte.

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