Freitag, 2. März 2012

2. Die BAP-Konzertkarte


Wenn Sie jetzt sagen „Das hat wohl nicht viel genützt, weil ich noch nie in meinem Leben Traubensaft getrunken habe“, dann kann das nur daran liegen, dass Sie nicht zur Zielgruppe gehören. Alle anderen – glauben Sie es mir – trinken seither nichts anderes als Traubensaft.

Zielgruppe ist übrigens ein sehr wichtiges Wort in der Werbung und Öffentlichkeitsarbeit. Ohne Zielgruppen könnten Sie keine Werbung machen, denn sie wüssten ja nicht, wen Sie mit Ihrer Werbung beglücken möchten.

Die Suche nach Zielgruppen ist ziemlich schwierig, weil sie sich gerne mal verstecken. Nur wenige würden freiwillig zugeben, zum Beispiel zur Zielgruppe der Dr. Müller-Sexshops zu gehören. Dennoch werden täglich Millionen von erotischen Utensilien unauffällig in Supermarkttüten nach Hause geschleppt.

Doch selbst wenn man die Zielgruppe endlich ausfindig gemacht hat, weil sie sich zum Beispiel verplappert hat, kann man sich seiner Sache nie wirklich sicher sein. Media-Experten, Zielgruppenforscher, Trendforscher und Marktforscher – leider häufig auch die Geschäftsführer von werbungtreibenden Unternehmen - haben oft völlig legitime, wenn auch sehr unterschiedliche Ansichten darüber, wer die Zielgruppe eigentlich ist, wo sie sich aufhält, was sie so macht und wie man sie am besten erreicht. Da ist es oft einfacher, eine Stecknadel im Heuhaufen zu finden.

Oder den Besitzer einer Telefonnummer ausfindig zu machen, der gerade nicht zu Hause ist und deshalb diese Auskunft nicht selbst geben kann. Die Telekom ist hier keine große Hilfe (ganz im Gegenteil, doch dazu später), und so mussten Margit, unsere Telefonistin, und ich, der Azubi, diese Aufgabe allein bewältigen. Kreativität war gefragt, schließlich arbeiteten wir in einer Werbeagentur! Wir steckten also die Köpfe zusammen und diskutierten verschiedene Strategien. Heimlichkeit, so waren wir uns schnell einig, war das oberste Gebot, denn unser Chef sollte nicht erfahren, dass wir während der Arbeitszeit versuchten, an die einzige Eintrittskarte eines BAP-Konzerts zu kommen, die ein offenbar zeitlich verhinderter Fan in der Tageszeitung zum Kauf angeboten hatte. Außer einer Telefonnummer hatte der Inserent keine weiteren persönlichen Angaben gemacht. Unsere unzähligen Anrufe im Abstand von drei Minuten hatten uns die Erkenntnis geliefert, dass der Inserent nicht zu Hause war. Der zweite Teil unserer Strategie bestand nun darin, den Namen und die Adresse des Inserenten herauszufinden. Anschließend wollten wir – bewaffnet mit ausreichend Bargeld und einem unwiderstehlichen Blumenstrauß – dessen Wohnungstür solange belagern, bis das Opfer auftauchte. Nur so konnten wir sicher sein, die Ersten und damit die Erfolgreichen zu sein. Dass wir dann zu zweit nur eine Konzertkarte hatten, verdrängten wir erst einmal.

Unser Vorgehen war einfach und zugegebenermaßen genial, wenn auch etwas zeitintensiv. Jeder von uns schnappte sich ein örtliches Telefonbuch von Ludwigsburg und fing an – der eine bei „A“, der andere bei „Z“ – nach der Nummer zu suchen. Ludwigsburg ist nicht sehr groß, es hat nur knapp 86.000 Einwohner. Anfang der achtziger Jahre waren es schätzungsweise nur 15.000, also eine Aufgabe, die sich locker in wenigen Tagen bewältigen lässt. Das Konzert war am nächsten Tag, deshalb beeilten wir uns.

Um in der Agentur nicht aufzufallen, mussten wir allerdings nebenher so tun, als ob wir unsere Arbeit erledigten. Margit ging darum pflichtbewusst ans Telefon, wenn es klingelte, und ich rauschte hin und wieder geschäftig an meinen Schreibtisch, um Unterlagen zu holen. So verging Stunde um Stunde.

Ich weiß nicht, ob Sie sich vorstellen können, welche Auswirkungen es auf die Psyche hat, wenn Sie über einen längeren Zeitraum nur eine sechsstellige Zahl im Kopf haben. Ich kann Ihnen sagen, es hat ganz ungewöhnliche Auswirkungen. Weil die Tätigkeit eintönig ist, fangen Ihre Gedanken an zu wandern. Und statt sich auf die Telefonnummer zu konzentrieren, fangen Sie plötzlich an, über lustige Nachnamen zu kichern. Oder die Ziffern zu verdrehen. Dann müssen Sie die Seite, auf der Sie gerade sind, noch mal von vorn durchsuchen. Bei Margit hatte die Telefonnummernsuche gänzlich andere Auswirkungen. Als nach mehreren Stunden erfolglosen Suchens wieder einmal das Telefon in der Zentrale klingelte, nahm Margit brav den Hörer ab und sagte: „Zweiundneunzig-sechsunddreißig-vierzehn.“

Das war natürlich ganz schlecht. Ganz besonders deshalb, weil es unser Chef war, der von unterwegs angerufen hatte. Und der wollte sofort wissen, was verdammt nochmal in seiner Agentur los sei und ob wir völlig den Verstand verloren hätten, schließlich hätte auch ein wichtiger Kunde anrufen können und was für einen Eindruck hätte das gemacht, und so weiter und so weiter. Wir prusteten mit Tränen in den Augen in die vorgehaltene Hand. Dann fingen wir beide seufzend an, unsere Seite noch mal zu durchsuchen.

Und dann geschah es: Margit stieß einen quiekenden Schrei aus. „Ich hab sie!“ raunte sie verschwörerisch hinterher. Als verantwortungsvolle Telefonistin konnte Margit ihren Arbeitsplatz natürlich nicht sofort verlassen, aber ein Azubi kann das, denn es gibt immer irgendetwas, das besorgt werden muss. Margit ließ ihren Blick also schnell über das Büromaterial schweifen und stellte fest, dass 5.000 Briefumschläge eindeutig zu wenig seien. Außerdem waren nur noch rund 90 Radiergummis da. Bei einer Mitarbeiterzahl von 25 ein unhaltbarer Zustand. Rasch wurde die Kasse geplündert und ich machte mich auf den Weg.

Wer so viel Einsatz zeigt – das wird Ihnen jeder Vorgesetzte bestätigen – wird auch belohnt. Bei uns war das nicht anders. Ich musste nur fünf Minuten vor der Haustür warten, dann kam der BAP-Kartenbesitzer nach Hause, und eine Minute später hielt ich die kostbare Konzertkarte in der Hand. Doch es kommt noch besser: Am Tag des Konzerts lungerten wir am Bühneneingang herum, und weil wir so nett waren, luden uns die Bandmitglieder ein, das Konzert von der Bühne aus mitzuverfolgen. Nach Eintrittskarten wurden wir erst gar nicht gefragt. Die fehlenden Briefumschläge und Radiergummis hatte ich am Tag davor irgendwie vergessen, aber das schien nicht weiter aufzufallen.

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